Kölner Kuriositäten

Henrike Stein

Kunstwerke, Bücher, naturwissenschaftliche Instrumente: Die jesuitischen Sammlungen bieten ein reiches Spektrum verschiedenster Objekte. Neben Prunkstücken wie den Coronelli-Globen und Prachtbüchern mit verzierten Ledereinbänden aus der Bibliothek gab es auch einfache Gebrauchsgegenstände wie Schulbücher und naturwissenschaftliche Geräte, zum Beispiel mehrere Thermometer oder Winkelmesser. Innerhalb dieser vielseitigen Sammlungen fallen einige Objekte als Kuriositäten ins Auge, die wegen ihrer skurrilen Erscheinung oder der merkwürdigen Funktion neugierig machen. Zudem finden sich ungewöhnliche Stücke, die man vielleicht nicht im Besitz des Jesuitenordens (kurz erklärt) vermuten würde. Im Jesuitenkolleg (kurz erklärt) wurden Kunstwerke, Münzen und naturkundliche Objekte im sogenannten Musaeum antiquitatum et rerum curiosarum (kurz erklärt), dem Studierzimmer der Antiquitäten und Kuriositäten, untergebracht. Diese Ordnung verweist auf die Kunst- und Wunderkammern der Renaissance und des Barock. Im 18. Jahrhundert zeigt sich eine Spezialisierung der Sammlungen, vor allem in Hinblick auf die Naturwissenschaften: Ein Musaeum mathematicum (kurz erklärt) wurde eigens für die physikalischen Instrumente eingerichtet. [1] Kuriositäten finden sich in allen Teilsammlungen.

Peter Flötner, Knabe neben einer Schüssel mit Würsten, 1537
Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud | Bildnachweis: Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud, WRM_GZ_02423

Peter Flötner, Knabe auf Muschel und Delfin balancierend, 1537
Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud | Bildnachweis: Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud, WRM_GZ_02425

In der Zeichnungssammlung des Kollegs gibt es zum Beispiel eine Reihe von Zeichnungen mit „Jesuitenkindern“, wobei es sich um Darstellungen von Putten oder der mythologischen Figur des Amor handelt. [2] Seit der Antike sind diese Figuren in der klassischen Ikonographie stets als nackte männliche Kleinkinder zu finden, erweitert mit Flügeln oder Pfeil und Bogen. Zwei Zeichnungen aus dem Jahr 1537 erregen Aufmerksamkeit: Ein Knabe steht neben einer Schüssel mit Würsten und wendet sich mit verzogener Mine davon ab. Die zweite Zeichnung zeigt einen von Meerwasser umgebenen Knaben, der mit einem Bein in einer Muschel steht und mit dem anderen auf einem Delfin zu balancieren scheint. Der Delfin ist in der antiken Mythologie ein Attribut von Meeresfiguren, zu denen auch Amor als Sohn der Venus gehört. In der Zeit der Renaissance, in der das Blatt entstanden ist, wird der Delfin zudem verstärkt als Symbol der Liebe eingesetzt. Übertragen auf die Bildaussage der Zeichnung kann die Liebe als Balanceakt gedeutet werden. Der Künstler Peter Flötner (um 1485/90–1546) zeichnete eine Reihe von Kinderdarstellungen, in denen Anspielungen auf Liebe und Erotik zu finden sind. Dies geht im Medium der Graphik auf eine lange Tradition zurück. Vermeintlich unverfängliche Kindermotive wurden zu mehrdeutigen (erotischen) Szenen komponiert, die von wissenden Betrachtenden zu entschlüsseln waren und für Erheiterung sorgen sollten. Vor diesem Hintergrund erhält die Zeichnung des Knaben mit der Schüssel mit Würsten auch eine erotische Bedeutungsebene. Es ist zu vermuten, dass die doppeldeutigen Blätter aus den Foliobänden im Kölner Jesuitenkolleg nicht zu Unterrichtszwecken eingesetzt wurden. [3]

Entzerrungsspiegel für Darstellung aus der projektiven Geometrie
Kölnisches Stadtmuseum | Bildnachweis: Rheinisches Bildarchiv Köln, rba_mf083948

Anamorphose
Kölnisches Stadtmuseum | Bildnachweis: Eigenes Foto

Schaubild einer Anamorphose mit IHS-Monogramm
Optische Sammelhandschrift der Jesuiten, Historisches Archiv der Stadt Köln, Best. 7004 (Handschrift (GB quart)), 50, nach fol. 108v. | Bildnachweis: Historisches Archiv der Stadt Köln

Im Gegensatz dazu wurde das Konvolut an Zerrbildern, den sogenannten Anamorphosen, die das Kolleg besaß, nachgewiesenermaßen in die Lehre integriert. Anamorphosen sind bildliche Darstellungen, die mit Absicht perspektivisch verzerrt wurden und erst aus einem speziellen Blickwinkel heraus oder mithilfe geometrischer Spiegel entschlüsselt werden können. Diese sogenannten Entzerrungsspiegel werden so auf einen markierten Punkt positioniert, sodass sich das zumeist im (Halb-)Kreis verformte Abbild im Spiegel entzerrt und ohne Verformung sichtbar wird. Dabei liegen den Spiegeln verschiedene geometrische Formen zugrunde. Die Verzerrung wurde mithilfe mathematischer Berechnungen und perspektivischer, projektiver Geometrie erzeugt, sodass theoretisch jede Abbildung deformiert werden konnte. [4] Im Physikalischen Kabinett ist ein rund 30 cm hoher Säulenspiegel überliefert, der im Inventar von 1938 als Entzerrungsspiegel bezeichnet wird. Daneben existieren noch „42 Schülerarbeiten“, bei denen es sich um farbig auf Pappe gemalte Anamorphosen handelt. Die Zerrbilder zeigen sowohl Personen und Tiere als auch Gegenstände und scheinbar abstrakte Farbfelder. Die Bezeichnung als Schülerarbeiten verweist darauf, dass die Bilder vor Ort im Unterricht geometrisch konstruiert und dann zeichnerisch und malerisch umgesetzt worden sind. Auf diese Weise wurde die projektive Geometrie bereits im 17. und 18. Jahrhundert praktisch vermittelt, wie sich auch durch jesuitische Handschriften belegen lässt, in denen sich zum Beispiel eine Verzerrung des Jesuitenzeichens IHS findet. Zudem gab es in der Büchersammlung entsprechende (jesuitische) Fachliteratur. Der Begriff der Anamorphose tauchte erstmals in einer Schrift des jesuitischen Naturforschers Kaspar Schott (1608–1666) auf, der am Jesuitenkolleg in Würzburg gelehrt und mit Athanasius Kircher zusammen am Collegium Romanum geforscht hatte. Mit Magia universalis naturae et artis (dt. Die umfassende Magie von Natur und Wissenschaft) schuf Schott ein Grundlagenwerk zur sogenannten optischen Magie, zu der auch Phänomene wie die Anamorphosen gehörten. [5] 

Visuelle Kuriositäten und „optische Bildbelustigungen“ [6] wie die Anamorphosen waren im 18. Jahrhundert in ganz Europa sehr beliebt und gefragt. Sie dienten als Unterhaltung sowie zu Lehrzwecken. Andere optische Instrumente aus diesem Kontext waren zum Beispiel Projektionsgeräte wie die sogenannten Zauberlaternen, Laternae magicae, oder Lochkameras, Camerae obscurae, die ebenfalls mehrfach im Physikalischen Kabinett vorkommen.

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  • Graphische Zensur auf dem Titelblatt, Andreas Corvinus, Fons Latinitatis Bicornis, 1660
    Gymnasialbibliothek, GBII+A273+A, Bei den punktförmigen Flecken handelt es sich um Lochschäden. | Bildnachweis: Universitäts- und Stadtbibliothek Köln
  • Andreas Corvinus, Fons Latinitatis Bicornis, 1650
    Bayerische Staatsbibliothek, 4 L.lat. 119 | Bildnachweis: Bayerische Staatsbibliothek

Kuriositäten finden sich jedoch nicht nur unter den Objekten, sondern auch im Umgang der Jesuiten mit ihren Sammlungsstücken. Besonders interessant ist ein Blick auf die Bücher, in denen die Jesuiten Zensuren vorgenommen haben. Neben inhaltlichen Zensuren von vermeintlich schlechtem Gedankengut, das nicht den Ordensregeln entsprach, gibt es auch graphische Zensuren, die zum Beispiel Darstellungen in Büchern überdecken sollten, die damals als moralisch verwerflich empfunden wurden. Ein gutes Beispiel ist das lateinisch-deutsche Wörterbuch Fons latinitatis (dt. wörtlich Ursprung der lateinischen Sprache) aus dem Jahr 1660, das wegen der geringen Anschaffungskosten ein häufig in Schulen verwendetes Lehrbuch war. [7] Der Kupferstich des Titelblatts zeigt einen wasserspeienden Brunnen und einen vorgelagerten Sockel, auf dem die Titelinschrift des Buches angebracht ist. Neben dem Postament stehen zwei allegorische Frauenfiguren. Das Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek zeigt links eine Frau mit bodenlangem Kleid und rechts eine fast nackte Frau, die nur einen Schleier trägt, während die entblößten Körperstellen der rechten Frau auf dem Titelblatt des Kölner Buches mit Tinte übermalt wurden. Obwohl es sich bei der rechten nackten Figur um die Allegorie der Wahrheit (Veritas) handelt und der entblößte Körper demnach als symbolisch aufzufassen ist, haben die Jesuiten an dieser Darstellung in einem Schulbuch offenbar Anstoß genommen. Durch die Übermalung war das Buch dann wieder „jugendfrei“.


[1] Vgl. Gunter Quarg, Die Sammlungen des Kölner Jesuitenkollegiums nach der Aufhebung des Ordens 1773, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 62 (1991), S. 153–173, hier: S. 155; Christoph Bellot, Grafische Sammlung und physikalisches Kabinett des ehemaligen Kölner Jesuitenkollegs, in: Kölner Gymnasial- und Stiftungsfonds (Hrsg.), Bildung stiften, Köln 2000, S. 120–147.

[2] Vgl. Hildegard Kretschmer, Art. Putto, in: Dies., Lexikon der Symbole und Attribute in der Kunst, Stuttgart 2011, S. 331–332. Die Rubrik „Jesuitenkinder“ findet sich im Katalog zur Ausstellung „Wir Glauben Kunst“ des Wallraf-Richartz-Museums: Thomas Ketelsen / Ricarda Hüpel (Hrsg.), Wir Glauben Kunst. Bildermacht und Glaubensfragen. Meisterzeichnungen aus der Kölner Jesuitensammlung ‚Col.‘. Ausstellung des Wallraf-Richartz-Museums & Fondation Corboud Köln vom 24. Mai bis 18. August 2019, Köln 2019, S. 129–158, Kat.-Nr. 38–45.

[3] Vgl. Iris Brahms, Peter Flötner, Knabe auf Muschel und Delfin balancierend, in: Thomas Ketelsen / Ricarda Hüpel (Hrsg.), Wir Glauben Kunst. Bildermacht und Glaubensfragen. Meisterzeichnungen aus der Kölner Jesuitensammlung ‚Col.‘. Ausstellung des Wallraf-Richartz-Museums & Fondation Corboud Köln vom 24. Mai bis 18. August 2019, Köln 2019, S. 130–132, Kat.-Nr. 38; Dies., Peter Flötner, Knabe neben einer Schüssel mit Würsten, in: Thomas Ketelsen / Ricarda Hüpel (Hrsg.), Wir Glauben Kunst. Bildermacht und Glaubensfragen. Meisterzeichnungen aus der Kölner Jesuitensammlung ‚Col.‘. Ausstellung des Wallraf-Richartz-Museums & Fondation Corboud Köln vom 24. Mai bis 18. August 2019, Köln 2019, S. 130–132, Kat.-Nr. 39.

[4] Vgl. Ulrike Hick, Geschichte der optischen Medien, München 1999, S. 90–104.

[5] Vgl. Barbara Maria Stafford, Kunstvolle Wissenschaft. Aufklärung, Unterhaltung und Niedergang der visuellen Bildung, Amsterdam / Dresden 1994, S. 62–65.

[6] Thomas Eser, Augsburger Anamorphosen des 18. Jahrhunderts, in: John Roger Paas (Hrsg.), Augsburg. Die Bilderfabrik Europas. Essays zur Augsburger Druckgraphik der Frühen Neuzeit, Augsburg 2001, S. 173–188, hier: S. 179.

[7] Vgl. Ulrike Haß, Deutsche Wörterbücher – Brennpunkte von Sprach- und Kulturgeschichte, Berlin 2001, S. 60.

 

Empfohlene Zitierweise
Henrike Stein, Kölner Kuriositäten, aus: Gudrun Gersmann (Hrsg.), Bücher, Bilder, Lehrobjekte: Die Sammlungen der ehemaligen Kölner Jesuiten (DOI: https://dx.doi.org/10.18716/map/00008), in: mapublishing, 2021 (Datum des letzten Besuchs).